Ex-Präses Dr. Christoph Morgner:
„Es gibt keine direkte Linie von Luther zu Auschwitz“
Die Forderung der „Grünen Jugend“ in Frankfurt a. M., nach Martin Luther benannte Straßen und Plätze umzubenennen, sorgte zuletzt für Schlagzeilen. Nach einem Kommentar von Pfarrer Winfrid Krause im IDEA-Magazin (siehe unten: „Luther ein Antisemit?“) und Leserbriefen zu Luther und seinem Verhältnis zum Antisemitismus folgt hier ein weiterer IDEA-Beitrag zum Überdenken vom früheren Präses des Ev. Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Pfarrer Dr. Christoph Morgner (Garbsen bei Hannover), der bereits am 31. Januar 2018 im IDEA-Magazin publiziert wurde.Im ausgehenden Mittelalter war die Judenfeindschaft Normalzustand. „Das Judentum ist eine Pest, wie sie feindseliger und gehässiger gegenüber der Lehre Christi nicht zu finden ist“, urteilte der führende Humanist der damaligen Zeit, Erasmus von Rotterdam (1466–1536). Juden wurden als Fremdkörper empfunden. Aus den meisten Ländern Europas waren sie längst vertrieben. Ihre Besonderheiten wie Kleidung und Sprache lösten Ängste aus. Ihr wirtschaftlicher Erfolg weckte Neid und Missgunst. Eigene Misserfolge oder unerklärliche Phänomene (Pest, Seuchen, Missernten) wurden gern den Juden in die Schuhe geschoben. Außerdem war man der Überzeugung, dass zu einem geordneten Staatswesen der einheitliche Glaube der Bevölkerung gehören müsse .In dieser Zeit lebt und wirkt Martin Luther. Nirgendwo spielen bei ihm irgendwelche rassistischen Motive eine Rolle, wie das im Dritten Reich der Fall war. Es gibt keine direkte Linie von Luther zu Auschwitz.
Für Luther waren die Juden erwähltDer Reformator sieht deutliche inhaltliche Unterscheidungsmerkmale zwischen Juden und Christen. Aber das Gebot der Nächstenliebe gilt auch gegenüber Juden. „Die Ablehnung von Gewalt gegen die Person von Juden hat Luther zeitlebens beibehalten, die Verbrennung von Menschen etwa – wie sie damals noch vielfach vorkam – stets verabscheut“, schrieb der evangelische Theologe Walther Bienert (1909–1994). Mit Beginn seiner Vorlesungstätigkeit (1512) tritt Luther für die Freiheit von Forschung und Lehre ein. Er wendet sich gegen das Verbrennen jüdischer Bücher, denn „100-fach schlimmer sind die Gotteslästerungen in der Christenheit“. Für Luther ist klar, dass die Juden nach wie vor von Gott erwählt sind. Deshalb haben Christen und Juden viel Grund, darüber Gott zu loben, nicht aber zum Streiten miteinander.
Im Jahr 1523 kommt es zu einem literarischen Paukenschlag: „Dass Jesus ein geborener Jude sei“. So heißt Luthers Schrift, deren Aussagen für die damalige Zeit revolutionär sind. Die Juden „sind von dem Geblüt Christi; wir sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutsverwandte, Väter und Brüder unseres Herrn“. Luther wendet sich gegen die Gräuelmärchen, die über Juden im Umlauf sind. Er kritisiert deren Ghettoisierung und die Berufsverbote, die über sie verhängt sind. Freundlich und wertschätzend sollen Christen und Juden miteinander umgehen. Hier zeigt sich Luther als Bahnbrecher für religiöse Toleranz. Die damals ihnen gegenüber geübte Gewalt hält er für verfehlt. Vielmehr sollen für Juden die bürgerlichen Berufe geöffnet werden, dann wären sie nicht mehr auf Geldgeschäfte und Wucher fixiert. Luther zielt auf die gesellschaftliche Integration der Juden, ohne deren Bekehrung vorauszusetzen. Er betrachtet es sogar als möglich, wenn zwischen Christen und Juden geheiratet wird.
Deutliche theologische GrenzenLuther ist überzeugt: Wenn Christen ihre Haltung gegenüber den Juden verändern, dann werden Juden eine andere Haltung gegenüber dem christlichen Glauben annehmen, zumindest einige von ihnen. Sie werden erkennen, dass ihr Messias nicht erst kommt, sondern in Jesus bereits gekommen ist. Luthers Schrift findet eine ungeheure Resonanz, wird in zehn Auflagen nachgedruckt und in Latein übersetzt. Seine freundliche Einstellung gegenüber den Juden hindert Luther jedoch nicht, deutliche theologische Grenzen zu ziehen. Er stellt fest, dass es die Juden ärgert, dass Jesus Gott sein soll. Sie sind verblendet, ungehorsam und verfallen damit dem Gericht Gottes. Aber Luther zweifelt nicht daran, dass es einen Rest gibt, der zum Glauben an Jesus findet.
Vielen erschien Luther als FürsprecherIn der Folgezeit wird sich Luther mehr und mehr des Unterschieds zwischen der jüdischen und christlichen Auslegung des Alten Testaments bewusst. Für Luther ist klar: Das Alte lässt sich nur vom Neuen Testament her angemessen verstehen, weil es auf Jesus zuläuft. Insofern tappt die jüdische Auslegung im Dunkeln. Die Rabbinen „zerreißen und zermartern die Schrift in ihren Auslegungen, wie die unflätigen Säue einen Lustgarten zerwühlen und umkehren“. Martin Luther zeigt bis dahin eine freundliche Haltung gegenüber Juden, um sie für den Messias zu gewinnen. Immer wieder hebt er die Vorzüge des erwählten Volkes heraus. Im Jahr 1537 schreibt er einen Brief an „den weisen Josel, Juden zu Rosheim, meinem guten Freunde“. Diese wertschätzende Linie zieht sich bis 1542 durch. Viele Juden sehen in Luther ihren Fürsprecher.
Was er besser nicht geschrieben hätteKurz vor seinem Lebensende verfasst er zwei Schriften, die er – so unsere heutige Einschätzung – besser nicht geschrieben hätte. Die jüdische Schrift, auf die Luther reagiert, ist leider verschollen. Sie enthält offensichtlich böse Schmähungen Christi und der Jungfrau Maria. Luther fühlt sich in seinem Glauben tief verletzt. Er lässt sich zu zwei polemischen Schriften hinreißen. Seine bisherige Gelassenheit ist dahin. Er sieht böse geschmäht, was ihm heilig ist. Er wendet sich gegen die Behauptung, Maria, „eine Hure“, hätte „mit einem Schmied im Ehebruch“ Jesus gezeugt. Maria wird darin als „Dreckshaufen“ bezeichnet, Jesus als „Missgeburt“.
Luther ist geradezu außer sich und gibt Ratschläge, wie die Obrigkeit künftig mit Juden umgehen soll. Luther nimmt jetzt die Gräuelmärchen von Brunnenvergiftungen durch Juden und deren Ritualmorde von Christenkindern positiv auf. „Wir wollten gern Geschenke geben, dass wir sie loswerden.“ Er stellt die Juden als Faulpelze hin, während die Christen arbeiten müssen. Was tun? Luther unterbreitet den Landesherren u. a. folgende Vorschläge: - Die Synagogen und Wohnhäuser der Juden sollen verbrannt und zerstört werden, weil in ihnen Jesus Christus gelästert wird. - Talmud und Gebetbücher sollen eingezogen werden. - Ihr Vermögen an Geld und Edelmetall soll konfisziert werden. - Ihren Lebensunterhalt sollen sich die Juden durch eine Art Zwangsarbeit bei Christen verdienen.
Am Ende schwankte erEs geht Luther um Vertreibung, so wie in anderen Ländern, nicht jedoch um Tötung der Juden. Nach wie vor lehnt er körperliche Gewalt gegen sie ab. Mit seinem Maßnahmenkatalog steht er nicht allein. Nicht nur Erasmus von Rotterdam, sondern auch der exzellente Hebräisch-Kenner Johannes Reuchlin (1455–1522) und der katholische Theologe und Luther-Gegner Johannes Eck (1486–1543) urteilen ähnlich. Dass Juden „nicht glauben wie wir, dafür können wir nichts, man kann niemanden zu Glauben zwingen … Aber öffentlich frei daher, in Kirchen und vor unseren Nasen, Augen und Ohren solchen Unglauben für recht zu rühmen und den rechten Glauben zu lästern und zu fluchen, das ist etwas anderes. Da ist unser Zusehen und Stillschweigen ebenso viel, als täten wir es selbst.“
Glücklicherweise wurden diese Schriften Luthers nicht sonderlich verbreitet (nur eine Auflage).Gegen Ende seines Lebens schwankt Luther. Einerseits sieht er für sie keine Hoffnung mehr. Andererseits schreibt er 1544: „Es gibt immer einige Juden, die gerettet werden.“ Auch in seinen letzten Predigten, die er in Eisleben gehalten hat, klingt diese Hoffnung durch.
Luther sah sein Lebenswerk in GefahrLuther „war keineswegs von blindem Hass auf die Juden und alles Jüdische erfüllt, sondern er meinte, im Kampf um die Wahrheit die evangelischen Territorien vor der Gefahr der Infiltration antichristlichen Geistes schützen zu müssen“, urteilt der Theologe und Altpräsident des Evangelischen Bundes, Hans-Martin Barth. Luther hat die inhaltlich und organisatorisch fragilen jungen evangelischen Gemeinden vor Augen, die er durch die Attacken der Juden gefährdet sieht. Christen könnten durch die Schmähungen der Juden an ihrem Glauben Schaden nehmen. Luther sah sein Lebenswerk der Reformation in Gefahr. Nur so lässt sich seine überschäumende Polemik verstehen.