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Glaube und Wissenschaft: Ein Widerspruch? - Nein, sagt Pfarrer Dr. Gerrit Hohage. 


IDEA-Interview mit dem badischen Pfarrer und Autor Dr. Gerrit Hohage
„Der Großteil der Theologen in Deutschland praktiziert die

theologische Forschung methodisch so, als ob es Gott nicht gäbe!“


Stehen moderne Wissenschaften und der christliche Glaube im Widerspruch? Mit dieser Frage beschäftigt sich der badische Pfarrer und Buchautor Dr. Gerrit Hohage. IDEA-Reporter Karsten Huhn sprach mit ihm über Atheismus in der Theologie – und was dagegen hilft.


IDEA: Herr Hohage, wie lassen sich christlicher Glaube und ein nüchterner Verstand zusammenbringen?


Hohage: Glauben ist nicht das Gegenteil von Wissen, beide haben sehr viel miteinander zu tun. Beim christlichen Glauben geht es um Ereignisse, die tatsächlich geschehen sind. Wenn man das nicht weiß, kommt man nicht weiter.


IDEA: Landläufig wird Glauben ganz anders verstanden: Der Glaube beginnt dort, wo das Wissen aufhört. Man weiß etwas nicht oder ist sich nicht sicher, aber hofft, dass es schon stimmen wird.


Hohage: Das stimmt aber nicht. Es ist umgekehrt: Alles Wissen, das wir haben, baut auf Glaubenssätzen auf. Denn jede Wissenschaft beruht auf Denkvoraussetzungen. Das sind Vorannahmen, die sich nicht beweisen lassen, sondern geglaubt werden müssen. Auf ihnen baut das jeweilige Wissenshaus auf. Das ist seit dem Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) bekannt. Deshalb finde ich es eigenartig, dass in unserer Zeit Glauben und Wissen häufig in einen Gegensatz gebracht werden.


IDEA: Auf welchen Vorannahmen beruht unsere Wissenschaft?


Hohage: Auf Glaubenssätzen, die sich zum Teil gegenseitig widersprechen. Zum Beispiel ging der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) davon aus, dass das forschende Ich, also der Wissenschaftler, der Welt objektiv gegenübersteht.


IDEA: Lag Descartes falsch?


Hohage: Man kann auf dieser Denkvoraussetzung durchaus ein Wissenshaus aufbauen. Allerdings kann man damit zum Beispiel keine Elementarteilchenphysik betreiben. Das hat der Physiker und Begründer der Quantenmechanik Werner Heisenberg (1901–1976) bewiesen: Wenn man einen Forschungsgegenstand untersucht, zum Beispiel eine Lichtwelle, beeinflusst der Wissenschaftler durch seine Beobachtung den Beobachtungsgegenstand. Dies steht jedoch im Gegensatz zur klassischen Physik, bei der eine ideale Messung das beobachtete System unverändert lässt.

„Ein Großteil der Theologen in Deutschland praktiziert theologische Forschung methodisch so, als ob es Gott nicht gäbe.“

IDEA: Wie wirkt sich diese Erkenntnis auf den christlichen Glauben aus?


Hohage: Wir müssen darüber nachdenken, auf welchen Denkvoraussetzungen unsere Theologie beruht. In der Philosophie der Aufklärung geht man zum Beispiel davon aus, dass Gott nicht in den Lauf der Welt eingreift. Dieses Vorgehen wird auch als „methodischer Atheismus“ bezeichnet: Alle Geschehnisse werden durch natürliche Prozesse, also ohne Gott, erklärt. Die Bibel sagt jedoch etwas anderes: Gott greift in die Welt ein, und er offenbart sich in seiner Schöpfung, in seinem Wort und in der Person Jesu Christi.


IDEA: Wie hält es die Theologie mit dem methodischen Atheismus?


Hohage: Hier liegt ein großes Problem: Seit dem 18. Jahrhundert hat ein Großteil der Theologen in Deutschland diese Denkvoraussetzung übernommen – nicht alle, aber die meisten. Sie praktizieren theologische Forschung methodisch so „etsi deus non daretur“ – als ob es Gott nicht gäbe.


IDEA: Warum ist diese Annahme ein Problem?


Hohage: Man kommt dann zwangsläufig zu anderen Forschungsergebnissen. Wenn ich in der Bibel bei den Propheten lese: „So spricht der Herr“, kann ich die Aussage nicht mehr so verstehen, dass Gott gesprochen hat, sondern lese darin nur noch die Aussage eines Menschen, der die Welt auf eine bestimmte Weise interpretiert.


IDEA: Wenn das stimmen würde, hätte der vermeintliche Prophet Gott einfach ein paar fromme Worte in den Mund gelegt – und dabei nur das ausgedrückt, was ihm selbst durch den Kopf geht.


Hohage: Richtig. Dann wäre nicht mehr Gott, sondern der Mensch die Ursache für den Glauben an Gott. Genau das ist methodischer Atheismus: Man redet nicht mehr von Gott, sondern nur noch von menschlichen Vorstellungen und Gottesbildern.


IDEA: Welchen Unterschied macht das im Gemeindealltag?


Hohage: Mit dem methodischen Atheismus kann keine reale Beziehung zu Gott entstehen. Man hat dann nur noch Interpretamente, also Gedanken, die sich Menschen von Gott machen. Nur wenn ich davon ausgehe, dass Gott tatsächlich zu uns spricht, ist eine Ich-Du-Beziehung zwischen Gott und Mensch möglich.


IDEA: Über Ihre Konfirmanden schreiben Sie in Ihrem Buch, diese wollten immer wissen, ob das, was in der Bibel steht, wirklich stattgefunden habe.


Hohage: Die Bibel beschreibt Ereignisse, in denen Gott als Ursache angenommen werden muss, weil alle anderen Erklärungsversuche unzulänglich sind.
 
IDEA: Jesus, der über das Wasser läuft und Lazarus von den Toten auferweckt – das sind für Sie tatsächliche Ereignisse?


Hohage: Ja, und daran zweifle ich keinen einzigen Moment.


IDEA: Nicht mal für einen Moment?


Hohage: Nein, weil die Zeugen glaubwürdig sind und weil die Ereignisse bei den ersten Christen eine große Resonanz ausgelöst haben. Das habe ich auch an mir selbst erlebt: Ich hatte kein gläubiges Elternhaus und bin aus einer großen Gottesferne heraus Christ geworden. Als ich Jesus im Gebet mein Leben übergeben habe, hatte ich Kontakt zu ihm – und dieses Erlebnis war für mich ein Wunder. Diese Gemeinschaft mit Gott erlebe ich seitdem jeden Tag. Deshalb habe ich kein Problem damit, die Ereignisse in der Bibel für echt zu halten.


IDEA: Die Bibel beschreibt Ereignisse, die für Naturwissenschaftler eine echte Anfechtung sind, zum Beispiel, dass die Sonne für einen Tag nicht unterging (Josua 10,13).


Hohage: Der Physikprofessor Peter C. Hägele hat sich mit Wundern aus naturwissenschaftlicher Sicht beschäftigt. Er kommt zu dem Schluss, dass auch extrem seltene Ereignisse denkmöglich sind. Er schlussfolgert: „Gott kann sowohl das Gesetzmäßige als auch das Zufällige in seinen Dienst nehmen, um Überraschendes, Wunderbares zu bewirken.“


IDEA: Ich vermute, dass Sie als Pfarrer mit dieser Position in Ihrer Kirche ein belächelter Außenseiter sind.


Hohage: Es ist sicherlich keine Mehrheitsposition, die ich vertrete. Ich schätze, dass in der Badischen Landeskirche etwa ein Fünftel der Pfarrer so denkt wie ich. Bei vielen meiner Pfarrkollegen gibt es eine Spannung: zwischen dem, was sie im Studium gelernt haben, und der Sehnsucht, mehr zu glauben, wenn sie es denn könnten. Ich denke, dass wir Gott viel mehr zutrauen können, als wir es tun.


IDEA: Sie sehen die akademische Theologie in einer Sackgasse. Weshalb?


Hohage: Ich frage mich, ob diese Wissenschaft noch reformierbar ist. Die Theologie möchte gerne ihren Platz an den Universitäten behaupten. Dabei hat sie sich seit der Aufklärung immer mehr in die Defensive drängen lassen, indem sie sich von deren Denkvoraussetzungen abhängig gemacht hat. Theologisch konservative Positionen sind an den Universitäten heute kaum noch zu hören. Ein prominentes Beispiel dafür war der Theologe Adolf Schlatter (1852–1938), der Neues Testament in Berlin, Greifswald, Berlin und Tübingen lehrte. Viele seiner Professorenkollegen mieden ihn und verweigerten die theologische Auseinandersetzung mit ihm.

„Wer den christlichen Glauben kritisiert, muss es sich also gefallen lassen, dass auch seine Kritik kritisiert wird und seine Denkvoraussetzungen hinterfragt werden.

IDEA: Wissenschaft bestand schon immer aus Machtkämpfen. Liberale Theologen sagen: Die Konservativen haben es doch früher mit uns nicht anders gemacht, als sie noch an den Universitäten die Mehrheit stellten.


Hohage: Das stimmt, und es war nicht gut. Auch die Frommen haben häufig mit Machtmitteln statt mit Argumenten gearbeitet.


IDEA: Die idyllische Vorstellung des Philosophen Jürgen Habermas vom „herrschaftsfreien Diskurs“ lässt sich nur schwerlich umsetzen.


Hohage: Das war nicht die Beschreibung eines Ist-Zustands, sondern eines Ideals. Heute laufen die Debatten eher nach dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984): Es geht um Machtwirkungen und um die Legitimierung oder Delegitimierung von Sprechweisen. Und wer seine Sprechweise durchsetzt, der bestimmt, was in der Öffentlichkeit gesagt werden kann.


IDEA: Als ein Gegenmittel empfehlen Sie den „theologischen Konter“.


Hohage: Der theologische Konter dreht die Kritik und das Infragestellen des christlichen Glaubens um, indem er die Denkvoraussetzungen der Kritik offenlegt, auf Plausibilität prüft und vom Glauben her hinterfragt. Wer den christlichen Glauben kritisiert, muss es sich also gefallen lassen, dass auch seine Kritik kritisiert wird und seine Denkvoraussetzungen hinterfragt werden. Dann stellt man schnell fest, dass hier nicht „Wissen gegen Glauben“ antritt, sondern „Glauben gegen Glauben“. Und dann steht man vor der Entscheidung: Wem glaube ich?


IDEA: Ihre wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse sind sehr anspruchsvoll. Wie schlägt sich das alles im Gemeindealltag nieder?


Hohage: Ich halte es mit dem britischen Schriftsteller Tom Holland. Er rät: „Predigt die merkwürdigen Sachen!“ Wir sollten außergewöhnlichen Ereignissen wie Jungfrauengeburt, Wundern und Christi Auferstehung nicht ausweichen und sie nicht schamhaft verschweigen, sondern thematisieren und plausibel machen. Das stärkt die Gemeinde in ihrem Vertrauen auf Gott und die biblische Überlieferung.


IDEA: Vielen Dank für das Gespräch!


IDEA – 30. März 2024


Gerrit Hohage studierte Evangelische Theologie in Bethel, Erlangen und Heidelberg und wurde dort 2005 zum Dr. theol. promoviert. Er ist Pfarrer in der Kirchengemeinde Gundelfingen (bei Freiburg). Hohage ist verheiratet und hat drei Kinder.

Hohage ist Autor von „Tief verwurzelt glauben“, das im Mai 2024 erschienen ist.




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