Artikel 4

Leid und die große Frage nach dem Warum

In Krisen fragen sich Betroffene: Gibt es einen Sinn im Leid? Aus seiner Beratungspraxis kennt der christliche Therapeut Andi Weiss dieses Ringen. Er begleitet Menschen in Krisenzeiten. Welche Antworten gibt er auf die Warum-Frage?
 
Die Frage nach dem „Warum“ gehört wohl zu den schwierigsten Fragen unseres Glaubenslebens. Ich finde es gefährlich, vorschnelle Antworten zu geben, die vielleicht gut klingen, aber eine Ohrfeige für diejenigen Menschen sind, die gerade vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens stehen. Als ich vor vielen Jahren meinen Dienst als Diakon in einer evangelischen Kirchengemeinde begann, brannte mein junges Herz. Ich liebte es, mit der Gemeinde Gottesdienste zu feiern. Schnell musste ich aber feststellen, dass Gemeindeleben nicht nur aus Sonntagen besteht. Plötzlich saß ich am Sterbebett einer krebskranken Frau oder stand mit den Eltern eines fünfjährigen Jungen an dessen Grab. Da erzählten mir Menschen in der Seelsorge von dunkelsten Stunden ihres Lebens, in denen sie alles erfahren hatten – nur nicht Gottes Gegenwart und schon gar nicht sein Eingreifen. Ich möchte ehrlich sein. In dieser Zeit bekam mein kindliches Gottesbild eines fürsorglichen Vaters massive Risse.
 
Die tragische Trias
Ein Text des Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) half mir, mein bisheriges Bild von Gott heilsam infrage zu stellen. Er schrieb: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns ... Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“ Am Kreuz ruft Jesus: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hier fühle ich mich verstanden. Der Lyriker Rudolf Otto Wiemer (1905–1998) schreibt: „Keines seiner Worte glaubte ich, hätte er nicht geschrien: ‚Gott, warum hast du mich verlassen?‘ “
Im Lamentieren erkenne ich, was mir fehlt. Ich benenne meine Ohnmacht. Manchmal trauen sich Menschen nicht zu klagen, weil sie nicht undankbar sein wollen. Dabei ist es so nötig, sich in diesem Schmerz ernst zu nehmen, um ihn nicht zu verdrängen. Der Philosoph Martin Heidegger (1889– 1976) sagte, schon allein das „In-der-Welt-sein“ macht dem Menschen Angst. Er ist allein mit seinen Bedürfnissen, seinen Ängsten, allein mit seiner Wut, allein in seinem Leid. Er empfindet sich als machtlos gegenüber dem Leben – auch gegenüber Gott.
 
Der Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl (1905–1997), der selbst vier Konzentrationslager überlebte, definierte einmal eine „tragische Trias“ aus Leid, Schuld und Tod, die jeden Menschen betrifft. Er schrieb: „Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.“
 
„Klagen ist ergebnisoffen“
Die Bibel ist voll von Leid und Klage. Die Geschichte des Propheten Elia erzählt von der heilsamen Wirkung des Trauerns. Elia liegt unter einem Busch. Er kann nicht mehr. Er will sterben. Er trauert. Und er darf das. Er trauert, weil er nichts anderes mehr kann und auch nicht können muss. Erschöpft schläft er ein. Ein Engel kommt und versorgt ihn. Sogar mehrmals. Er bekommt neue Kraft, kann aufstehen und seinen Weg gehen.
Inzwischen arbeite ich schon seit vielen Jahren als Logotherapeut und begleite Menschen in Krisensituationen. In unzähligen Gesprächen erzählten mir Menschen von ihren dunkelsten Stunden. Oft wollen sie rasch wieder „auf die Beine“ kommen. Doch der Heilungsprozess ist oft langwierig. Elia klagt absichtslos. Klagen ist ergebnisoffen. Ich muss gerade eben keine Antwort finden. Bonhoeffer ermutigt uns, an den Grenzen des Lebens zu schweigen und das Unveränderbare auszuhalten. Diese radikale Akzeptanz erlöst mich von meinem verzweifelten Kampf, Dinge, die ich nicht verändern kann, klären zu müssen. Denn die Frage, ob Leid verdient oder ungerecht ist, führt zwangsläufig in eine Sackgasse.
 
Über das Vergleichen
Neulich stieß ich auf eine interessante Fragestellung: „Wenn Sie von einer Schlange gebissen werden, ist es dann sinnvoller, nach einem Gegengift zu suchen, oder ist es besser, der Schlange hinterherzulaufen, um ihr zu erklären, dass Sie diesen Biss doch eigentlich nicht verdient haben?“ Wenn Sie Leid als Ungerechtigkeit begreifen, kostet es Sie nur noch mehr Kraft. Sie werden immer Menschen finden, denen es „scheinbar“ auf den ersten Blick deutlich bessergeht als Ihnen – aber eben auch Menschen, denen es deutlich schlechtergeht. Hören Sie auf, sich mit anderen zu vergleichen. Denn Gott, das Leben, niemand schuldet Ihnen etwas. Der Kabarettist Dieter Hildebrand (1927–2013) meinte einmal: „Statt zu klagen, dass wir nicht alles haben, was wir wollen, sollten wir lieber dafür dankbar sein, dass wir nicht alles bekommen, was wir verdienen.“
 
Schätze und Scherben
Als im Johannesevangelium, Kapitel 9, die Jünger Jesus fragen, was denn der Blindgeborene oder seine Eltern falsch gemacht hätten, bricht Jesus den Zusammenhang zwischen unserem Tun und unserem Ergehen auf. Wenn mein Leid keine Strafe Gottes ist, darf ich Leben aufrecht und trotzdem gestalten. Der jüdische Arzt Viktor Frankl lädt uns ein, auch die großen Schicksalsschläge als Aufgabe und Herausforderung anzunehmen und somit „Leid in Leistung, Schuld in Wiedergutmachung und die begrenzte Lebenszeit in einen verantwortlichen Lebensstil zu verwandeln.“ Jesus ent-schämt uns, indem er mitleidet in dieser Welt. Er nimmt uns heilsam den scheinbaren Erfolgsdruck, den wir, aus unserem biografischen System kommend, in uns tragen. So dürfen wir im Leid eine neue Identität entdecken und erfahren, dass wir nicht nur mit unseren Schätzen, sondern auch mit unseren Scherben sein dürfen. Dann zählt nicht nur mein eigener Schmerz, sondern der „kranke Nachbar“ auch. Ich darf mir ein „Stück unheile Welt“ in die Hände geben lassen und mit meinem eigenen Schmerz zum Segen in dieser Welt werden.
 
Den Sinn im Leben finden
Frankl nahm das Buchmanuskript eines seiner bekanntesten Werke – „Ärztliche Seelsorge“ – in seinen Mantel eingenäht mit ins KZ. Es war sein wertvollster Besitz, den er vergeblich zu retten versuchte. Doch statt in Hoffnungslosigkeit zu versinken, kritzelte er heimlich Notizen auf kleine Zettel und stellte sich vor, wie er eines Tages in einem hellen Raum – auf einem Podium stehend – anderen Menschen von seinen Erlebnissen erzählen würde. Einmal verzichtete er zugunsten seiner Mithäftlinge auf die Chance zur Flucht, weil er wusste, dass er der einzige Arzt unter den Häftlingen war.
 
Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Und Frankl ergänzte, wer seinen Sinn im Leben gefunden hat, der wird daran nicht nur glücklich, sondern auch leidensfähig. Frankl betonte, dass Menschen – selbst in den schwierigsten Lebensumständen wie in Zeiten von Krankheit, Verlust oder Leid – immer die Freiheit haben, ihre Einstellung zu wählen. Die Warum-Frage darf so neu gestellt werden. Ich frage nicht mehr: Warum geschieht gerade mir das?, sondern: Wohin wird mich diese leidvolle Erfahrung, die ich gerade ertragen muss in meinem Leben, noch bringen? Frankl betonte: „Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, muss auch Leiden einen Sinn haben. Es kommt nicht darauf an, was man leidet, sondern wie man es auf sich nimmt.“

Andi Weiss

ist Logotherapeut und Sinncoach in München. Er begleitet seit über 20 Jahren Privatpersonen in Krisen und Veränderungsprozessen. Führungskräfte unterstützt er in der Bewältigung komplexer Aufgaben und der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Er ist zudem Sänger, Autor sowie Redner. Weiss hat über 100.000 Bücher und CDs verkauft.

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